Malerei: Pigmente, Acryl, Kreidegrund, Jute unter Plexiglas
Bestien. Vor ihnen hat man sich zu fürchten, sie sind wild, mächtig, fremdartig, unheimlich und verbannt aus dem sicheren Hort der Zivilisation. Liegt es an einer dunklen, uralten Verwandtschaft, dass der Mensch trotzdem seit je von ihnen fasziniert war und ist? Die 1974 in Sofia geborene und seit 2012 in Berlin wirkende Künstlerin Boriana Pertchinska interpretiert die in ihren Arbeiten auftauchenden mythologischen und symbolisch aufgeladenen Tierwesen neu: „Bestien“ als Verkörperungen verborgener Kräfte und innerer Dämonen. Im Sprung hervorschnellende Tiger, schlangenhaft gewundene Drachen, Zähne zeigende Raubfische - in all diesen Tierwesen scheint das innere Sein eines Menschen Gestalt angenommen zu haben. Formal und inhaltlich arbeitet die Künstlerin mit Bipolarität. Die meisten ihrer Werke sind Diptychen, also Doppelbilder. Im Binnenraum jedes an der Mittelachse gespiegelten Doppelbildes entsteht ein Dialog zwischen beiden Seiten. Die ganze Bedeutung jedes Kunstwerkes erschließt sich erst aus der spannungshaften Kommunikation der Teile. Das Prinzip formaler Kreisschlüsse und der Einheit zweier Glieder, explizit sichtbar im Bild „Drehung/Janus“ (2022), erinnert an den Uruboros, ein seit dem Neolithikum bekanntes Bild des ewigen Kreislaufes des Lebens und der Materie, oft versinnbildlicht in dem Motiv der Schlange, die ihren eigenen Schwanz verschlingt. Der Uroboros steht für die Vorstellung, dass Gut und Böse, Negativ und Positiv Triebkräfte derselben Dynamik sind.
Absolut ungewöhnlich ist die Entstehung der Diptychen aus zwei Schichten eines Malprozesses. Noch im Finale bleibt die für alle Arbeiten von Boriana Pertchinska charakteristische Polarität erhalten: zum einen die Malerei auf Leinen in Gestalt einer im altmeisterlichen Stil formulierten Zentralfigur, zum anderen deren Konterfei als Zeichnung auf Papier. Jede Arbeit beginnt mit der aufwändigen Aufbereitung eines Kreidegrundes auf rauem Leinen als Basis für das Gemälde. Was später als Papier zum zweiten Flügel des Werkes wird, fungiert in dieser Phase noch als Unterlage, wie eine tiefere Hautschicht gewissermaßen.
Die Künstlerin, die 1999 ihren Master of Arts in Wandmalerei an der National Academy of Fine Arts Sofia absolvierte, beweist ihr meisterlich-realistisches Können bei der Formulierung von Menschen, Tieren und floralen Elementen in klassischen Maltechniken mit Pigment und Eitempera. In der Tradition der Fresken - und Tafelmalerei des 14. bis 17. Jahrhunderts zeigen die Gemälde farbliche Brillanz, Tiefe und eine symbolische Patina.
Das Papier, welches während der ersten Arbeitsphase unter dem Leinen liegt, nimmt die durchsickernden Malmittel auf. Die sich auf diese Weise ausprägenden Strukturen sind zufällig und dienen Pertchinska als Basis, um mit Kohle und Feuer eine schemenhafte Spiegelung der Zentralfigur aufzufassen. Das flüchtigere Zeichenmaterial wie auch das spurenbehaftete Papier, ein „nervöses, höchst reaktives Material“ (B.P.), lassen das Ergebnis flüchtig, beinahe geisterhaft erscheinen. Einem Palimpsest gleich, dessen Botschaft ausgewischt wurde. Assoziationen zum rätselhaften Grabtuch Jesu Christi drängen sich auf: wie der sprichwörtliche „Hauch der Seele“ klingt auf dem Papier etwas nach, das aus der Wirklichkeit verschwand.
Seit 2019 fügt die Künstlerin ihren Arbeiten eine weitere Dimension hinzu. Auf dem Papier erscheinen Visualisierungen von digitalen Schaltplänen für Musik, kreiert für automatisierte musikalische Kompositionen. Aus ihrer Sicht stehen diese körperlosen, technologischen Skelette für den kühl kalkulierenden Schematismus digitaler Programme, der im Hintergrund all der unzähligen Social Media-, Gaming- und Dating-Plattformen unsichtbar operiert. Sie halten einen unendlichen Horizont artifizieller Identitäten am Laufen und das verführerische Versprechen, alles finden zu können, was man sucht; alles sein zu können, was man will. Die Frage nach der Authentizität unserer Wahrnehmung und unseres Selbst ist brisanter denn je.
Die technische Komplexität der Arbeiten ist Ausdruck der Vielschichtigkeit der behandelten Themen. Im Zentrum steht der Blick auf den Menschen als einem Wesen, das sich in stetiger Wandlung befindet und zwischen körperlichen und psychischen Bedürfnissen, zwischen Ratio und Gefühl, sozialen Normen, gesellschaftlichen Regeln und individuellen Wünschen eine Balance halten muss. Vor diesem Hintergrund scheint es folgerichtig, dass die Künstlerin das Feuer als Material für sich entdeckt hat. Mit der Kerzenflamme wird das Leinen eingebrannt, die Spur einer möglichen Vernichtung hinterlassend, auf den Papieren finden wir rußige Spiralen, gerade rechtzeitig noch wurde dieses Element zerstörerischer, wütender Energie, aber auch Metapher für Erkenntnis, gebannt. Auch, dass die Arbeiten neuerdings über das Rahmenformat hinaus expandieren, passt in den Kreis der die genannten Themen tragenden Ausdrucksmittel.
Boriana Pertchinska verbindet in allen Arbeiten zeitgenössische mit zeitlosen Inhalten, traditionelle mit zeitgenössischen Techniken. Auf diesem Wege versucht sie, den Inhalten dieser Zeit Tiefe und Dauer zu verleihen. Dieser kreative Ansatz, ein breites Spektrum stiliistischer Mittel zu nutzen, weist sie als Zeitgenossin einer multiplen, patchworkartigen Welt aus, die bewusst mit der Polyphonie des globalen Schatzes an Wissen und Tradition spielt. In „Bestien VI“ beispielsweise haben wir sowohl an den Drachen als das todbringende Ungeheuer des europäischen Mittelalters zu denken wie auch an den Glücksbringer, Symbol der Fruchtbarkeit und kaiserlichen Macht in Ostasien. Im Bildraum ist beides gleichwertig gültig und dennoch nicht kohärent. Aufgrund Pertchinskas Expertise in Ikonologie macht es einige Freude, sich mit solchen Bildexegesen näher zu beschäftigen. Insbesondere die Tiere besitzen lange und nicht selten ambivalente Deutungstraditionen.
Insbesondere die Tiere besitzen lange und nicht selten ambivalente Deutungstraditionen. Dass viele von ihnen die Mäuler öffnen, markiert die Grenze zwischen Außenwelt und innerlichem Sein. Aktiv, dynamisch, manchmal aggressiv stellen sie eine Öffnung der undurchdringlichen Körper- wie auch Bildoberfläche her. Wie Höhlen oder Tore weisen die Tierwesen hinein in die Welt der Gefühle und Intuition.Trotz der realistischen, auf Modellen basierenden Ausführung versteht Boriana Pertchinska ihre Personendarstellungen nicht als Portraits. Im Prozess vom Vorbild zum fertigen Ergebnis wächst jede Persönlichkeit über sich hinaus und gewinnt mit dem ikonenhaften Antlitz eine überindividuelle Geltung. Während die Gesichter der Menschen passiv und introvertiert erscheinen, brodeln ihre animalischen Farbe sprühenden Begleiter von explosiver Kraft. In ihnen scheint sich etwas Aufgestautes Sichtbarkeit und Platz verschaffen zu wollen. Es scheint, als vermöchten nur die Tierwesen die Seelen der Menschen zu artikulieren und dem Ausdruck zu verleihen, was hier gehört werden will. — Interessanterweise ist nur die Begleiterin des kleinen Mädchens in „Karussel“(2022) keine Bestie, sondern ein Schaukelpferdchen. Das Kind bedarf einer Bestie noch nicht.
Maria Wirth, Februar 2025 (DE)